
Eine andere Geschichte oder die geheime Biografie des Celluloseacetats
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Mein Bildschirm ist voller wissenschaftlicher Begriffe: Thermoplasten, Celluloid, Kollodium, Polymerisation – mon dieu! Dazu habe ich unzählige Tabs mit Lexika geöffnet. Ich wusste schon immer, dass meine Talente nicht unbedingt auf dem Gebiet der Naturwissenschaften liegen.
Eigentlich wollte ich nur verstehen, warum Celluloseacetat besser als Plastik ist. Ist es nachhaltig oder nur eine weitere grüne Marketingmasche? Ja, das ewige Problem im Universum der Nachhaltigkeit.
Ich lehne mich lustlos zurück und schließe die Augen. Plötzlich steht vor mir ein eleganter Herr in feinem Zwirn mit einem leicht französischen Akzent. Er verbeugt sich galant.
„Enchanté, ma chère! Mein Name ist Celluloseacetat – aber bitte, nenne mich nur Cellulose. Ich bin nicht einfach irgendein Kunststoff. Ich bin le grand classique unter den Materialien.“
Ob es wohl ein gutes Zeichen ist, dass Materialien jetzt mit mir sprechen? Doch irgendetwas an der Geschichte dieses Materials fasziniert mich. Also lasse ich meine Augen geschlossen und frage:
„Wer bist du?“
„Ah, quelle question! Ich bin ein echter Pionier! Ein Avantgardist! Ich wurde im 19. Jahrhundert geboren, als Chemiker noch die große Kunst der Materialforschung betrieben. Mein Vater, Paul Schützenberger, war ein neugieriger Mann – un homme de génie! – der mit geheimnisvollen Zutaten experimentierte. Eines Tages behandelte er Cellulose, ein natürliches Polymer, das in Pflanzen vorkommt, mit Essigsäure und Schwefelsäure, et voilà – da war ich! Ein Meisterwerk der Chemie!“
„Wie bitte? Einfach voilà – und da warst du?“
„Aber oui! So entstehen große Dinge – mit einem voilà und einem Hauch von Brillanz.“
„Aha…“
„Damals hatte ich noch keinen Namen, und kaum jemand wusste, was man mit mir anfangen sollte. C’est la vie! Doch mit der Zeit sollte sich das ändern…“
Der exzentrische Cousin aus Übersee
„Moment mal, bist du nicht Zelluloid?“
„Non, non, non! Bitte! Ich bin so viel mehr! Zelluloid ist ein entfernter Cousin aus den USA. Er war jung, wild, voller Energie – très dramatique! Ach, er wollte immer glänzen, immer im Rampenlicht stehen. Doch wie es bei solchen Charakteren oft der Fall ist… nun ja, er hatte gewisse explosive Neigungen.“
„Explosiv?“
„Oh là là, oui! Er war – wie sagt ihr? – eine tickende Zeitbombe. Un feu d’artifice! Ein Feuerwerk, das viel zu schnell verglühte. Aber um dich nicht zu verwirren, werde ich dir die ganze Geschichte erzählen…
Damals, auf dem amerikanischen Kontinent, spielten die Menschen leidenschaftlich Billard.
Es gab unzählige Spielstätten, und das Spiel entwickelte sich zum Wettkampf unter Meistern. Die Billardindustrie florierte – doch sie hatte ein Problem mit den Billardkugeln.
Zu jener Zeit wurden sie aus Elfenbein hergestellt, genau wie Klaviertasten und andere Luxusgüter. Das bedeutete nicht nur, dass Elefanten in großem Stil gejagt und getötet wurden – das Material war auch teuer.“
„Ich schätze, dass wohl eher der Preis als die Liebe zu den Elefanten ausschlaggebend war.“
„Ah, très bien, du verstehst es! Die Menschen waren pragmatisch, nicht sentimental. Also setzten sie Zeitungsanzeigen auf – damals war das eben das, was ihr heute als Instagram-Werbung kennt – und boten eine Belohnung für denjenigen, der eine Alternative zu Elfenbein fand.
Ein Mann namens John Wesley Hyatt schien die Anzeige gelesen zu haben, denn er begann mit verschiedenen Materialien zu experimentieren. Heute gilt er als Father of the Plastics Industry – doch seine ersten Versuche scheiterten kläglich.
Ich bin wohl nicht so einfach herzustellen, ma chère! Die ersten Billardkugeln waren eine Enttäuschung. Zu leicht, zu zerbrechlich – und das Schlimmste? Sie machten beim Spielen nicht das gewohnte Klick... sondern eher ein Peng!
Hyatt musste also weiterforschen. Schließlich entdeckte er, dass durch das Mischen von Nitrozellulose mit Kampfer ein sichereres und formbares Material entstand, das er Zelluloid nannte.
Es war revolutionär! Das muss ich schon zugeben. Schon bald wurde es für Kämme, Knöpfe, Zahnbürsten und sogar für die Filmindustrie verwendet.
Doch mein Cousin Zelluloid hatte eine klitzekleine Schwäche – oder besser gesagt, ein ziemlich großes Problem: Er war weiterhin leicht entflammbar. Ah, dieser Verwandte, er war ein Feuerwerk – aufregend, laut, aber letztendlich… pouf! Ich hingegen? Zeitlos. Kultiviert. Sicher. Comme il faut!“
Der lange Weg zur Renaissance
„Ich habe dir bereits erzählt, dass anfangs in Europa niemand so recht wusste, was er mit mir anfangen sollte. Doch das änderte sich um die Jahrhundertwende. Während Zelluloid mit einer gewissen… explosiven Persönlichkeit auftrat, war ich die stabilere, verlässlichere Variante – je suis très fiable!“
„Aha, also sicherer – aber ist das alles?“
„Ah, du unterschätzt mich! 1904 erkannten die Brüder Camille und Henri Dreyfus mein Potenzial. Sie entwickelten neue Herstellungsverfahren und fanden immer mehr Einsatzmöglichkeiten für mich. Ich war auf dem besten Weg, die Welt zu erobern!“
„Und dann kam Plastik auf die Welt?“
„Oui, oui, dann kamen diese synthetischen Polymere.
Plötzlich war Erdöl die große Hoffnung der Industrie. Kunststoff wurde noch flexibler, noch günstiger, noch massentauglicher. Und so begann die Ära des Plastiks – zunächst eine Erfolgsgeschichte, doch mit Schattenseiten, die ihr Menschen heute nur zu gut kennt: Plastikmüllberge, Mikroplastik in den Ozeanen und ein Material, das unsere Erde nicht wieder loswird.“
„Aber, warum bist du besser als diese synthetischen Polymere?“
„Ich bin zwar ein Kunststoff, aber mit einem entscheidenden Unterschied: Ich bestehe nicht aus Erdöl, sondern aus Pflanzenresten, Baumwollfasern oder Holzabfällen – aus nachwachsenden Rohstoffen. Erdöl dagegen? Teuer, umkämpft und endlich.“
„Und warum bist du jetzt wieder im Trend?“
„Pff… Trend? C’est ridicule! Ich bin nicht im Trend – ich bin eine Renaissance! Ein Klassiker kommt nie aus der Mode. Ich bin edel, ich bin langlebig, und ich bin zurück!
Heute bin ich wieder gefragt. Nachhaltigkeit ist kein Trend mehr – sie ist eine Notwendigkeit. Aus mir entstehen wieder wunderschöne, hochwertige Produkte: Brillenfassungen, Haarklammern, Accessoires.“
„Wer hätte gedacht, dass du nach all diesen Jahren doch noch dein großes Comeback feierst?“
„Aber natürlich! Mon grand retour! Ein echter Star verlässt die Bühne nie ganz… er wartet nur auf den perfekten Moment. Tja, ma chère, les grands classiques ne meurent jamais!“
Ich öffne die Augen, mein Laptop zeigt immer noch unzählige Tabs. Ah… c'est merveilleux… Wissenschaft kann manchmal sehr charmant sein…
Infos & Weiterführende Links
Celluloseacetat ist langlebig und eine hochwertige Alternative zu erdölbasierten Kunststoffen. Doch es ist wichtig zu wissen, dass es nicht vollständig biologisch abbaubar ist. Unter bestimmten Bedingungen kann es sich zersetzen, doch der Prozess kann – je nach Umwelt – mehrere Monate bis Jahre dauern.
🌿 Umweltbundesamt 👉 Biobasierte & biologisch abbaubare Kunststoffe
🏛 Deutsches Kunststoff Museum 👉 Die Geschichte der Kunststoffe
📖 Die Geschichte 👉 Wie billiger Kunststoff die Welt eroberte